Publikationen:

Michael Göbel „Roundabout“ 2021, St. Martin, Kassel
Katalog, 36 Seiten, mit einem Text von Angela Makowski, deutsch/englisch

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Katalog

Michael Göbel & Oliver Scharfbier, „Sic semper tyrannis“ 2013, Pavillon im Milchhof, Berlin
Katalog, 20 Seiten, mit einem Text von Dr. Tanja Vonseelen

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Michael Göbel, „Circus Maximus“ 2011, Galerie Coucou, Kassel
Faltblatt, 6 Seiten

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Michael Göbel, „Michael Göbel“ 2010, Kunsthalle Willingshausen
Katalog, 60 Seiten, mit Texten von Bernhard Balkenhol und Barbara Heinrich, deutsch/englisch

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Abbildungen/Erwähnungen (Auswahl):
„Kunstbulletin“, 4/2022, Schweiz
Hessenschau“ 12.09.2021, HR-Fernsehen
Drunter&Drüber – Magazin für Endlichkeitskultur“ 1/2021
„Irritation • Rotation • Isolation“ 2017, Ausstellungskatalog 387, Kassel
„Urs Lüthi zeigt Nopression“ 2017, Ausstellungskatalog Galerie Coucou, Kassel
„HIERundJETZT • Horizontal • Vertikal • Diagonal“ 2013, Ausstellungskatalog 387, Kassel
„51°18’49“N 9° 29′ 51“E“ 2010, Ausstellungskatalog Kasseler Kunstverein
„bewegte Kunst“ 2008, Ausstellungskatalog arsprototo – Galerie für zeitgenössinsche Kunst, Erlangen
„Deutsch-Polnisches Kunstsymposium Erlangen – Warschau“ 2008, Ausstellungskatalog arsprototo – Galerie für zeitgenössinsche Kunst, Erlangen
„junger westen 2003 – Grafik, Zeichnung, Fotografie“ 2003, Ausstellungskatalog Kunsthalle Recklinghausen
„Selbst – im weitesten Sinne“ 2003, Ausstellungskatalog Marburger Kunstverein e.V.


Texte:

Katalogtext „Roundabout“, St. Martin Kassel, 2021
Angela Makowski
Erdenschwere und Erhebung
„Und das geht hin und eilt sich, daß es endet, / und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.”
Die ziellos kreisende Drehbewegung, die in Rainer Maria Rilkes Gedicht über das Karus­sell im Jardin du Luxembourg das Leben als Wieder­­kehr des Gleichen und doch immer wieder anderen beschreibt, ist in St. Martin an ihr Ziel gelangt. Die Rotation, die Stabilität garantierte, ist in Stillstand übergegangen, ein technisches Gerät ist Kunstwerk geworden: eine Ansichtssache, querliegend zu Archi­tektur, Atmosphäre und Funktion des Kirchen­raums. St. Martin dient als bergende Hülle, formaler Rahmen und emotionaler Ermög­lichungs­r­aum für ein Objekt, das mit seiner Schief­lage Ansätze zu Assoziationen in vielerlei Richtung bietet. Michael Göbels „Roundabout“ lässt offen, ob es sich bei dem, was da am Boden liegt, um eine kollabierte Maschinerie handelt, oder vielmehr um eine, die dabei ist, sich aufzurichten und zu werden, was sie möglicher­weise einmal war. Die Ambivalenz zwischen gescheiterter Hoffnung und kon­struk­tivem Aufstieg verlangt im Umgang mit dem plastischen Kunstwerk einen ständigen Perspektiv­wechsel – und macht die visuelle Ruhe­störung aus der Apparatewelt zum Anlass für Reflexionen über Rotation, Routine und Ritual im gesellschaftlichen Zusammen­hang. Denn auch auf kulturellem und politischem Gebiet sind das Eingebunden­sein in Systeme der Wiederholung, die Repro­duktion vertrauter Abläufe und die Wieder­kehr zirkulärer Pro­zesse die Faktoren, die der individuellen Existenz Stabilität, Orientierung und Ruhe verleihen. Aus dem Vollzug von Ritualen und Routinen erwächst das Gefühl der Geborgen­heit im Regelwerk und der Bestän­dig­keit gegen­über einer Welt in permanentem Wandel.
Im Erwartungszusammenhang des Sakral­raums hingegen wirkt „Roundabout“ mit der Spannung zwischen der obligatorischen Stille des spirituellen Ambientes und der Herkunft des Gerätes aus dem Gelärm des Vergnügungs­parks wie ein Fremdkörper: auf den ersten Blick ein Störfaktor, der dem Geist des Ortes zuwiderläuft. Doch bei näherer Hinsicht liegt das Kunstobjekt so, wie es liegt, genau richtig: in einem Umfeld nämlich, das gleichfalls charakterisiert ist durch zirkuläre Prozesse. Denn auch der soziale Handlungsraum Kirche ist auf vielfältige Weise geprägt von ritualisier­tem Tun, das die einzelnen einbindet in eine Struktur aus wiedererkennbaren Abläufen. Die Liturgie stiftet Geborgenheit im Regel­werk gemeinschaftlichen Handelns. Das Format, das die Kirche wesentlich prägt, ist eben jene Wieder­kehr des Gleichen, die auch das Karus­sell ausmacht. Indem der Raum der Kirche ein System aus repetitiven Verhaltens­weisen bereit­stellt, wird er zum Ereignisort einer Institution, die in vielerlei Hinsicht auf Ritualen gründet. Jeder Gottesdienst basiert auf dem Vertrauen in sich wiederholende Vorgänge. Damit aber erweist sich das quer­liegende Kunst­objekt als dort sehr wohl am Platze.
Anlass für die Formentstehung seines Kunst­werks, das Michael Göbel als Objekt der „Gegen­­warts­archäologie“ begreift, war der Anblick jener verlassenen Fahrgeschäfte in der menschen­leeren Szenerie des Vergnügungs­parks Prypjat nahe Tschernobyl, dessen Eröff­nung durch die Reaktorhavarie verhindert wurde. Die aus der Ikonografie des Stillstands im atomaren Katastrophengebiet entwickelten „Lunapark Models“ und die Installation „Dead­lock“ – ausgestellt unter anderem 2009 im Kasseler Kunstverein – markieren Vorstufen für die Präsentation in St. Martin. Mit seinem „Roundabaout“-Konzept steht Michael Göbel zugleich in der Tradition der Karussell-Adap­tionen der neueren Kunst- und Kultur­ge­schichte, die zumeist mit gesellschafts­kritischen und politischen Implikationen argu­mentieren. So konterkarierte zum Beispiel Hans Haacke für „Skulptur.Projekte Münster 1997“ mit „Standort Merry-go-round“ das dortige Kriegerehrenmal mit einem Kinder­karus­sell, bei dem das „Deutschland­lied“ den Soundtrack lieferte. Und 2007 zur documenta 12 machte Andreas Sieckmann das Denkmal Friedrich II. mit der Karussell-Um­bau­ung „Die Exklusive“ zum Dreh- und Angelpunkt seiner Kritik an Ausländerrecht und Abschiebe­ver­fahren. Jüngstes Beispiel ist das „Waisen-Karussell“ in Frankfurt am Main. Die Künstlerin Yael Bartana installierte es Anfang September 2021 in der dortigen Gallus-Anlage als Erinner­ung an die Kindertransporte nach Eng­land 1938/39. Damals hegten Kinder und Eltern die Hoffnung auf baldiges Wiedersehen, auf Dreh­ung der Verhältnisse.
Mit seiner Offenheit für Uneindeutiges und Durch­lässiges, Widersprüchliches und Irritier­endes setzt Michael Göbel sein viel­dimen­sionales Kunstobjekt auch in komplexe Bezieh­ungen zu den spezifischen Gegeben­heiten des Kirchenraums. Eingebettet in das formale System aus visuellen Bezügen, löst sich „Round­about“ entgegen seiner massiven Materialität aus manchen Blickwinkeln nahezu in die Raum- und Luftsituation hinein auf. Damit wird das Kunstwerk sowohl zum Partner des Kirchenraums als auch zum Modell für die Kunstwahrnehmung. Es verdeutlicht, dass diese heute nur im beständigen Wechsel der Ansichten vonstattengehen kann: in der Bereit­schaft zum Erleben des immer wieder Neuen und Anderen.
In St. Martin finden sich all diese Aspekte auf­ge­hoben. Sakrales und triviales Geschehen begegnen, durchdringen und überlagern einander. In der überraschenden Konfron­tation des Disparaten kann die künstlerische Erweiterung des Erfahrungs­raums Kirche neue Erlebnisse und Erkenntnisse ermöglichen; sie kann befreien von der Erstarrung im Drehen um die eigene Achse, vom dem Beharren auf dem eigenen Standpunkt und dem blinden Rotieren um vermeintlich gesicherte Erkenntnisse.
„Und dann und wann ein weißer Elefant.”

Interview zur Arbeit „Stufen (aus der Serie der „Gedankengebäude“)“ in der Zeitschrift „Drunter&Drüber„, 2021
1. Was bedeuten die Stufen?
Wenn man Treppenhäuser (oder zumindest Ausschnitte davon) sieht, bringt einen der eher beschreibenden Titel „Stufen“ nicht viel weiter. Allerdings stößt man bei Wikipedia wenn ich „Stufe“ eingebe, nach der naheliegenden „Treppenstufe“, etwas weiter unten auf „Jahrgangs-“ oder „Evolutionsstufe“.
Stufen, als der eher anstrengende Weg auf die nächste Ebene oder, wie im Fall einer Wendeltreppe, als Vorankommen durch immerwährendes Drehen um sich selbst. Auch ein Synonym für künstlerisches Arbeiten.
2. Wie sind sie gemacht?
Die Arbeiten sind als Kuben angelegt, die wie schlichte Museumssockel aussehen. Sie sind, wie die meisten solcher Sockel, ebenfalls aus Holzplattenmaterial gefertigt. Ich habe vor dem zusammensetzen der „äußeren Hülle“ die eigentlichen Treppen aus verschiedenen Materialien gefertigt, in die Blöcke eingepasst und dann die Einblicke in die Platten geschnitten. Die Innenräume der Skulpturen sind maßstabsgetreue (1:8) und möglichst detailreiche Nachbildungen von Treppen(-häusern), die ich aus verschiedenen realen Aufgängen und Stufen in vier prototypische Treppensituationen für die Arbeit zusammengefügt habe. Wie fast alle meine Skulpturen sind die Arbeiten komplett einfarbig lackiert.
3. Was war dein Motiv beim Erstellen und wie wird die Arbeit wahrgenommen?
Ich sehe meine Arbeit als philosophische Forschung mit künstlerischen Mitteln, und lege die einzelnen Werke als Portraits an. Wenn auch keine Menschen zu erkennen sind, so werden immer gesellschaftliche Situationen, menschliche Entscheidungen oder Empfindungen nachgezeichnet. Bei den „Stufen“-Arbeiten bin ich vom menschlichen Streben nach Erkenntnis oder Erfolg ausgegangen. Einerseits interessierte mich das Motiv der Vertiefung und das Vordringen bis zum Kern und andererseits der „Aufstieg“, der auf die nächste (Erkenntnis-)Stufe oder aus dem Dunkel ins Licht führt.
Das „sich verlieren“ im Ungewissen, das Kreisen um die Sache, oder die Abgründe, die sich am Rand auftun können, ließen mich mit den Kuben so etwas wie „scharf aus der Realität geschnittene“ Räume schaffen, und tatsächlich werden die Arbeiten in Ausstellungen – wohl auch durch die Farbgebung, die eine fast hermetische Abgrenzung erzeugt – häufig eher als düster wahrgenommen. Ich wurde vereinzelt auch schon mit Assoziationen von geheimnisvollen Türmen oder grausamen Kellerverliesen konfrontiert, aber meist überwiegt die Neugier „wohin“, oder „wie weit“ es da noch runter ginge, und was man, einmal oben angekommen, denn da machen solle. Für mich sind das Fragen, die ich in meiner künstlerischen Praxis immer wieder verhandele. Beantworten können sie allerdings nur die Betrachterinnen und Betrachter selbst.
4. Welche Rolle spielen negative Gefühle in der Arbeit als Künstler?
Kreative Arbeit, wie ich sie verstehe, fokussiert häufig Probleme und arbeitet mit Extrempunkten um Dinge zu verdeutlichen, was bei den Betrachterinnen und Betrachtern schnell als negativ empfunden wird.
„Destruction is not negative, you must destroy to build“ steht auf der Coverrückseite der zweiten LP der Einstürzenden Neubauten von 1983. Der landläufig negative Akt der Zerstörung, oder auch nur negative Gefühle und Gedanken, können auch als Aufbruch, hier wörtlich für etwas aufbrechen, verstanden werden.
Meine eigene Arbeit besteht meist aus längeren, eher von Recherche geprägten Phasen, in denen ich Phänomene von möglichst vielen Seiten beleuchte, bevor im Atelier im besten Fall eine künstlerische Arbeit daraus wird. Ob der ursprüngliche Ansatz etwas eher negatives war, über das ich mich vielleicht aufgeregt hatte, ob es obskur war, oder einfach nur eine auffällige Häufung, verliert sich dabei meist im Laufe der Zeit, und die Sache wird eher zu etwas wie einem Forschungsgegenstand.

Einführung in die Ausstellung „Isolation“ 387 Kassel, 2016
Karin Thielecke MA (Auszug)
(…) Eine ganz andere künstlerische Position stellen wir mit Michael Göbel vor. Seine themenbezogenen Konzepte beschäftigen sich oft mit den öden Orten, verwaisten Ideen, den verlassenen Plätzen und Überbleibseln unserer Kultur. Mit einer ironischen Grundhaltung beobachtet er in seinen Arbeiten das Spannungsverhältnis zwischen Individualität und Konformität.
Mit „Stufen 1-4“ zeigt Michael Göbel nun erstmals eine neue Werkgruppe aus der Serie „Gedankengebäude“, die im hinteren Teil des Raums eine Insel bilden: Vier graugrüne Monolithen, handwerklich präzise und perfekt gearbeitet. Wie sie da stehen wirken sie abweisend und fast hermetisch von der Umgebung abgeschlossen – wären da nicht die wenigen fensterartigen Einschnitte, die einen vagen Einblick in das Innenleben der Quader gewähren. Die Objekte verbergen mehr als sie offenbaren. Der Künstler hat Stiegen und Treppenhäuser fotografiert und exakt als verkleinertes Modell nachgebildet – bis hin zur Andeutung ihrer unterschiedlichen Materialität wie Holz oder Beton.
Es schaudert einen und lässt einen spüren wie sehr sich die medialen Bilder und Narrative in unser Gehirn eingenistet haben. Doch der Künstler beteuert glaubhaft, die Bildvorlagen seien diesmal ganz harmlose Auf- und Abstiege. Es sind herausgeschnittene Blöcke aus der Realität, die mit der Ambivalenz von Innen und Außen spielen. Isoliert im eigenen Gedankengebäude scheint der Ausweg ein eher gefahrenvoller zu sein, scheint die Aufwärtsbewegung zum Licht ein Absturzrisiko zu bergen. (…)

Einführung in die Ausstellung „Diagonal“ 387 Kassel, 2013
Dr. Harald Kimpel (Auszug)
(…) Noch gefährdeter – weil ohne terrestrischen Stützpunkt – hält MICHAEL GÖBEL seine Pseudo-Architektur in der Luft: Auch hier herrscht Hochspannung, denn was uns vorschwebt, ist – abgehängt und abgehangen – ein elektrotechnisches Bauwerk: eine Skulptur, transformiert zu einem Transformatorenhaus, oder umgekehrt: ein Trafo-Häuschen, abstrahiert zur Plastik, farblich monochromisiert in einer jener Un-Farben, die dem Künstler so gut stehen und die alle seine Kunst-Gebilde des naturalistischen Effektes berauben. Und diese verfremdete Funktionsarchitektur ist im Begriff, sich umzuwenden, entwurzelt das Unterste zu Oberst zu kehren, sich auf und davon zu machen. Eine Umwälzung ist hier im Gange: Wer will, mag das als Symbol einer halbherzig vollzogenen Energiewende sehen, als Aufstieg und Fall einer omnipräsenten, zivilisatorisch unerlässlichen, systemrelevanten Energieform.
Doch das Gebilde hat es in sich: Denn mit seiner revolutionären Bewegung gibt Michael Göbels hoch spannendes Hochspannungs-Objekt den Blick in sein Innenleben frei: auf Notizzettel, deren Botschaften allerdings unter der Totaleinfärbung verlorengegangen sind. Was also sind die Fragen, die an diese Nachrichtenzentrale zu richten wären? Welche Antworten hätten wir hier ablesen können? Die Kunst jedenfalls versorgt uns mit keinem konkreten Meinungsbild. Was dieses „Gedankengebäude“ (so der Obertitel der Werkserie, dem diese Arbeit angehört) mitzuteilen hat, bleibt den Besuchern überlassen. Was das Publikum erfahren will, muss es selbst mitbringen. Diese Behausung für Ideen will gefüllt werden, dieser Schacht steht offen für Vorschläge. (…)

Katalogtext zur Ausstellung „Sic semper tyrannis“ mit Oliver Scharfbier, Pavillon im Milchhof, Berlin, 2013
Dr. Tanja Vonseelen
«Sic semper tyrannis» – «Dies immer den Tyrannen». Wer würde die implizite Aufforderung dieses Satzes zur Verurteilung und Bestrafung eines tyrannischen Alleinherrschers nicht als eindeutig wünschenswerten Appell verstehen wollen? «Sic semper tyrannis», soll John Wilkes Booth, populärer Schauspieler und fanatischer Sympathisant der Südstaaten, auf der Bühne gerufen haben, nachdem er am Abend des Karfreitags 1865 während einer Vorstellung im Ford’s Theatre in Washington D. C. in der Loge des Präsidenten den tödlichen Schuss auf Abraham Lincoln abfeuerte. Lincoln, ein Tyrann? Der historische Kontext lässt das Textfragment in einem anderen Licht erscheinen. Die anfänglich suggerierte Eindeutigkeit weicht einer multiplen Interpretierbarkeit. Als Ausstellungstitel ist die lateinische Phrase in ihrer Ambiguität daher glücklich gewählt. Denn auch die in «Sic semper tyrannis» präsentierten Arbeiten sind alles andere als eindeutig, auch wenn sie dies bisweilen auf den ersten Blick suggerieren.
Die Ausstellung in dem kleinen, lichtdurchfluteten Kubus des «Pavillon am Milchhof» im Berliner Prenzlauer Berg vereint mit Michael Göbel und Oliver Scharfbier zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Künstler, deren gezeigte Werke sich jedoch spannungsvoll ergänzen. Das mag der gemeinsamen Ausbildung durch Urs Lüthi an der Kunsthochschule Kassel zuzuschreiben sein. Beide Künstler lassen sich nicht auf ein Medium festlegen, ihre Variationsbreite in Bezug auf Werkzeug, Technik und Material reicht von Environment, Zeichnung, Malerei bis hin zur Videoinstallation. Beiden gemeinsam ist auch eine ähnliche Begeisterung für das künstlerische Handwerk. Doch da, wo Michael Göbel mit strengem Konzept agiert, seine Bilder und Objekte selten dem Zufall überlässt und das Werden der Kunst akribisch bis ins letzte Detail begleitet und hütet, entstehen die Arbeiten von Oliver Scharfbier eher im entgegengesetzten Prozess. Spontan, entgrenzt, fast so, als würden sich die Ideen plötzlich ihre Bahn brechen. Deutlich lassen sich die großformatige Leinwand «Warme Melodie» (2013) sowie die kleine Tuschezeichnung «Sic semper tyrannis» (2012) in ihrem emotionalen, kraftvollen Duktus seinem Werk zuordnen. Doch das, was so lässig und unprätentiös erscheint, ist präzise formuliert und in seiner Wirkung genau kalkuliert. Sorgsam werden Text und Bild miteinander in Beziehung gesetzt. Allerdings verweigern sich die aus ihrem Kontext gerissenen Textfragmente einer exakten Interpretation. «Deine warme Melodie macht mich fertig», scheint die Malerei zu schreien. Vielleicht seufzt sie es aber auch nur. Die Konnotation ist nicht auszumachen. Liegt Empörung oder Bewunderung in der Feststellung? Ein Hinweis in Bezug auf die Leserichtung, z. B. anhand der Farbigkeit der Malerei, fehlt. Bei den zwei ausgestellten Skulpturen kann man Ähnliches beobachten: Durch «Re-Konfiguration» (vgl. Dorothée Bauerle-Willert: Provisorium als Status quo. 2009) von gefundenen Objekten und Zitaten aus völlig heterogenen Funktionszusammenhängen lässt Oliver Scharfbier neue semantische Systeme entstehen, ohne jedoch die Spuren und Verletzungen ihren vorherigen Verwendung zu tilgen. Die Dechiffrierung der so entstandenen Bedeutungsüberlagerungen bleibt, wie schon bei den Wandarbeiten, Sache des Betrachters. Denkanstöße geben lediglich die im Vergleich zur Abstraktion der Arbeiten erstaunlich narrativen Titel. So umgibt eine Aura geheimnisvoller Schönheit die Skulptur «Alle sieben Jahre» (2013), eine Assemblage aus einem rostigen Postfach, scharfkantigem, gebrochenem Glas und dem kalten Licht einer Leuchtstoffröhre, das die rostige Lade erhellt und den Blick auf eine kryptische Botschaft auf dem Glas ermöglicht «Nach sieben Jahren | der großen Gier | Rachedurst und Zorn | Blitzartig löst sich die Hitze auf». Die Ästhetik der Skulptur trifft auf eine inhaltliche Mehrdeutigkeit, die sich nicht auflösen lässt. Darf eine Skulptur so etwas? Eine Prognose stellen, ähnlich wie das Orakel von Delphi, ohne irgendeinen Beleg auf Wahrhaftigkeit und vor allem ohne eine semantische Ebene? Ohne Zeitbezug? Den Betrachter völlig im Unklaren lassen, was alle sieben Jahr sein wird? Ist es Versprechen oder Drohung, was hier proklamiert wird? Steht die Erfüllung der Prophezeiung kurz bevor, sind wir mittendrin oder ist die vorhergesagte Kehrtwende vielleicht bereits Geschichte, sodass wir uns hier lediglich mit dem Fragment einer politischen Botschaft konfrontiert sehen, das auf merkwürdige Weise bewahrt wird?
Auch bei der kleinen Arbeit «Elfkommazwei Kilo Widerstand» aus dem Jahr 2013 handelt es sich um die Übertragung eines gefundenen Objektes in einen neuen Kontext. Das gewichtige Objekt, einst Betonhantel, präsentiert sich, mit Henkel und Inschrift versehen und auf einen Sockel gestellt, von Weitem so unschuldig wie ein edel zur Schau gestelltes Gucci-Handtäschchen. Doch der Schein, und auch der humorvoll anmutende Titel, trügt: Die Skulptur trägt eine nicht zu leugnende Brutalität in sich, auch wenn sich erneut nicht ausmachen lässt, ob es sich hier z. B. um eine friedliche oder eher gewalttätige Form des Widerstandes handelt. Oder gar, wem hier auf die eine oder andere Art widerstanden wird oder widerstanden werden soll.
In direkter Nachbarschaft zu der markanten Wandplastik «Alle sieben Jahre» von Oliver Scharfbier formieren sich menschenähnliche Gestalten, erschaffen von Michael Göbel (o. T., 2010). Die für maritime Zwecke entwickelten Ölmäntel deuten das, was sie beschützen sollen, nur an. Sie sind menschenleer, nur noch Hülle, eingelassen und gehalten von Podesten. Die im Volksmund auch als Friesennerz bekannte Funktionskleidung, en vogue, lange bevor es das Wort «Funktionskleidung» überhaupt gab, birgt sicherlich Erinnerungen an eine Kindheit im norddeutschen Tiefland. Abgeschottet von der Außenwelt, gleichen die Regenmäntel einer persönlichen Festung im Kampf gegen Wind, Wetter und auch allen anderen Unbillen des Lebens. Doch vor allem spielt die Arbeit mit der gleichmachenden Eigenschaft des schweren Ölzeugs, das ob seines geschlechtsneutralen Schnitts und einer gewissen Sperrigkeit des Materials den in ihr steckenden Menschen nicht nur schützt, sondern auch in gewisser Weise nivelliert. Das Individuum wird Teil einer undefinierbaren und ununterscheidbaren Masse – und das bei höchstmöglicher Sichtbarkeit durch die gelbe Signalfarbe. Damit aktualisiert die auffällige Skulpturengruppe die Fragen nach der Entstehung von Identität, der Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft und dem Spannungsfeld zwischen Individualität und Konformität (vgl. Barbara Heinrich: Michael Göbel. Katalog zur Ausstellung «Inseln». 2010), mit denen sich der Künstler immer wieder auseinandersetzt. Auch Göbels Schmetterlinge, als Trockenpräparate eng gedrängt auf der gesamten Stirnseite des Ausstellungsraumes präsentiert, sind somit weit mehr als eine simple Anspielung auf Vergänglichkeit, Metamorphose und Unsterblichkeit. Verhandelt wird mit der Serie der Pretiosen, zu der neben den in der Ausstellung gezeigten 80 von insgesamt 100 Tablets (Lepidoptera, 2012) auch noch 12 Armbanduhren (Chronos I–XII, 2012) gehören, vielmehr eine weitverbreitete Strategie der Identitätsstiftung: die Sammelleidenschaft. Denn wir sammeln aus den unterschiedlichsten Gründen. Um uns an etwas zu erinnern, aus wissenschaftlichen Motiven oder ästhetischem Antrieb. Und auch um mit den angehäuften Kostbarkeiten unsere Identität, unser Selbstbild, und das Bild, das sich andere von uns machen, zu schärfen. Stolz werden die Objekte der Begierde präsentiert. Kleine Altäre der eigenen Obsession, oftmals in einer eigens dafür geschaffenen Ecke des Wohnraumes. Doch was im Falle des Zyklus «Lepidoptera» auf den ersten Blick täuschend echt wirkt, entpuppt sich auf den zweiten Blick als kunstvolle Imitation: Für diese Sammlung musste kein Schmetterling sein Leben lassen. Ausnahmslos alle Falter im Werkzyklus wurden von Menschen- bzw. Künstlerhand geschaffen. Anders als in den üblichen Schmetterlingssammlungen lassen sie sich jedoch nur noch durch ihre Form voneinander unterscheiden. Überzogen mit Tafellack und einem Gemisch aus Bitumen und Wachs wird ihre farbenprächtige Schönheit – und damit ihr wichtigstes Destinktions- und Bestimmungsmerkmal – ausgelöscht. Das, was einst exklusiv und exotisch war und dem Sammler zu Prestige, öffentlicher Anerkennung und Abgrenzung verhelfen sollte, gerät zur Farce. Hier geht es nicht um die Zurschaustellung einer wertvollen Sammlung. Hinterfragt wird die Sinnhaftigkeit des Sammelns selbst. Und vielleicht auch die Absurdität im Umgang mit Pretiosen: Getötet und auf Nadeln gespießt, oder, wie im Fall der Uhren, aufbewahrt und zu Staubfängern degradiert, um ihren Wert nicht zu mindern.
Eine Sammlung ganz anderer Art bilden die fünf ausgestellten Markerzeichnungen der Destinations-Serie (o. T., 2008), die auf Grundlage von streng dokumentarisch aufgenommenen Fotografien entstehen. Im Fokus steht die Frage nach unserer Wahrnehmung, dem Umgang mit der Realität und unserer Erinnerung daran. Präsentiert werden Flugzeuge, das Symbol schlechthin für große Reisen und Fernweh. Doch keines der hier zu sehenden Luftschiffe hat bisher seine Reiseflughöhe erreicht. Statisch zeigt Michael Göbel sie am Boden stehend, als Projektionsfläche für Wünsche und Träume, wie uneingelöste Versprechen ihrer eigentlichen Bestimmung beraubt. Stillstand anstelle Bewegung. Verstärkt wird der unwirkliche Charakter der Motive durch das transparente Grau der in Parallelschraffur ausgeführten Zeichnungen: Ähnlich wie bei Nachbildern oder Traumsequenzen scheint es, als müsse man um ihre Existenz (und um den Blick auf sie) kämpfen, nur, um sich der Vergeblichkeit des eigenen Tuns bewusst zu werden. Denn was aus der Distanz noch klar erkennbar erscheint, verliert mit zunehmender Fokussierung und Nähe seine Kontur. Eine buchstäblich verblassende Erinnerung, ebenso wie das Bild des brennenden Autos in «Burning car» (2011), das, einem Bericht zu den Automassakern in Berlin entnommen, auf eine Glasscheibe geätzt wurde. Die Spiegelungen im Glas machen eine genaue Betrachtung des Dargestellten zu einem Geduldsspiel. Der Betrachter steht sich selbst im Weg, beständig auf der Suche nach dem richtigen Winkel, der ihm den Zugang zum Motiv ermöglicht. Nur um zu erkennen, dass hier ohnehin nur angedeutet wird, was man sehen könnte – und dass das dokumentarische Bild anhand der eigenen (Seh)Erfahrung und Erinnerung komplettiert wird und werden muss.
Sic semper tyrannis? Alles, so scheint die Ausstellung nahezulegen, erscheint als eine Frage der Perspektive. Nichts ist endgültig, nichts auf den ersten Blick fassbar. Ein gemeinsamer Kampf der Künstler – gegen die Tyrannei der Eindeutigkeit und einfachen Lösung.

Einführung in die Ausstellung „Bergungen“ Bergkirche Wiesbaden, 2013
Gabrielle Hattesen (Auszug)
Michael Göbel zeigt themenbezogene Konzepte, die sich oftmals mit Orten beschäftigen, die öde, unbewohnt, scheinbar wesenlos dastehen. Der Künstler zwingt uns quasi zum Betrachten von Szenen danach. Seine skulpturalen Objekte hier in der Kirche sind „ohne Titel“. Was verbergen sie, wer sucht Bergung, wer versteckt sich hier und wovor?
Ölmäntel sind die klassischen Bekleidungsstücke der 1950/1960er Jahre zum Schutz gegen Wind und Wetter; man denkt an Sturm und Unwetter auf hoher See, an Menschen, die den Widrigkeiten der Natur trotzen. kurzum an Menschen in Aktion.
Die beiden gelben Ölmäntel, die Michael Göbel hier präsentiert, sind menschenleer. Die Mantelteile vergraben sich zum Teil in einen „Assoziationsraum“. Der Betrachter empfindet Empathie mit einem nichtexistenten Wesen, das diesen Mantel als Schutz verwendete.
Die Glasfläche lehnt behutsam an der starke Kraft ausstrahlenden Kirchenwand. Wir erkennen auf ihr nur zaghaft einen verlassenen Raum – mit den Gegenständen, die ein karges Leben einer Klause ausmachen: ein Stuhl, ein Bett, Überbleibsel einer Wandgestaltung. Doch alles verbleibt im Bereich der Andeutung, des Ungewissen, der Phantasie, des Nicht mehr– oder Noch nicht-Seienden.
Wiederum ein menschenleerer Ort.
Der Zustand des Nichtmehrseins, das Leere, die Verlassenheit ist Programm des künstlerischem Tuns von Michael Göbel.
Es bleiben nur Gegenstände. In den Sinn kommt einem ein bekannter, auf Baudrillard zurückgehender Satz aus dem Film „die Matrix“: „welcome to the desert of the real“. Willkommen in der Öde der Wirklichkeit. Und in diese Wirklichkeit scheint sich die auf dem Rand des Altars stehende, alles überblickende Figur, das „Alter Ego“ des Künstlers, stürzen zu wollen.

Einführung in die Ausstellung „Ich und die Wirklichkeit“ Kunsthalle im Gerhard-von-Reutern-Haus Willingshausen, 2012
Anett Frontzek (Auszug)
In unserer Ausstellung „ICH UND DIE WIRKLICHKEIT“ vereinen wir vier formal, technisch und inhaltlich sehr eigene Wahrnehmungen und Konstruktionen von Realität.
Skulpturen, Linolschnitte, Zeichnungen, Collagen und Papierschnitte sollen Sie einladen, sich in die vier individuelle Wirklichkeiten zu begeben, und sich aus den gefundenen Versatzstücken wie mit einem Kaleidoskop immer neue, eigene Welten zu kreieren.
Michael Göbel scheint sich auf den ersten Blick in fast klassischer bildhauerischer Manier, seine Umwelt zu erschaffen. Recht alltägliche Dinge sind anzutreffen. Hochstände und Jägerstände, Monoblock Stühle und andere Sitzmöbel. Einfamilienhäuser, ja ganze Hotelanlagen am Inselstrand möblieren seine Welt.
Sogar ein Riesenrad lässt sich finden.
Wer, vom Maßstab verführt, jedoch an Modellwelten denkt, wird enttäuscht. Zu glatt die Oberfläche, zu uniform die Farbigkeit und ganz eigen der Maßstab.
Ein rosa farbener Hochstand im Maßstab 1:6 dient nicht mehr der Beobachtung. Er wird beobachtet – aus der Vogelperspektive.
Wird der Jäger hier zum Gejagten?
Die Skulptur „Harmony in my head“, die Sie dort vorne sehen, entstand 2011 unter Einbeziehung eines, noch zu Schulzeiten gebauten; Brückenmodells von 1991. So, wir Brücken in der Realität Täler und Schluchten überspannen, überspannt hier die Brücke mentale Abgründe.
Die Zeichnungen neben der Empore, die „Bedrooms“ von 2007, entstanden unter Inspiration von Abbildungen aus dem Internet. Private Schlafräume, von Ihren Eigentümern den neugierigen Blicken der Öffentlichkeit preisgegeben, werden von Michael Göbel in heller Markerzeichnung dem Betrachter präsentiert.
Ein privater, fast intimer Raum, der doch keinen Rückschluß auf seine Bewohner zuläßt. In welcher Welt sind wir da gelandet? (…)

Katalogtext (aus Termingründen nicht erschienen) „Trautes Heim, Glück allein“ Nassauischer Kunstverein Wiesbaden – NKV, 2011
Dr. Elke Ullrich
Göbels 1999 begonnene und fortlaufende Arbeit „Mein öffentliches Leben“ zeigt ein großformatiges Selbstporträt des Künstlers, hinter dem sich in Aktenordnern persönliche Daten und Fakten seines Lebens befinden. Solche so genannten sensiblen Informationen verschwinden in der Regel gut verschlossen im eigenen Büroschrank. Die Möglichkeit im Kunstraum öffentlich Einsicht in persönliche Zahlen zu nehmen scheint den Betrachter zunächst zu einem voyeuristischen Schatzgräber des Datenschutzes zu machen. Zugleich stellt sich die Frage, wie viel Persönlichkeit des Künstlers durch Rechnungen und offizielle Papiere preisgegeben wird. Göbel trat mit dieser Arbeit lange bevor die Generation Facebook die Diskussion um Öffentliches und Privates zu ihrem derzeitigen Höhepunkt brachte, die „Flucht nach vorne“ an, in dem er scheinbar essentielle Informationen zu seiner Person greifbar machte. Die insgesamt 133 Aktenordner werden im Laufe seines Lebens weiterhin mit bürokratischen Daten zu füllen sein, die persönliche und künstlerische Entwicklung nimmt in anderen Formen parallel dazu ihren Lauf.

Text im Faltblatt zur Ausstellung „Circus Maximus“ Galerie Coucou, 2011
Wagenrennen werden in der Galerie Coucou keine veranstaltet. Auch auf Tierhetzen oder Gladiatorenkämpfe verzichtet Michael Göbel in seiner Ausstellung „Circus Maximus“.
Der Große Zirkus kommt eher leise daher. Allerdings zeigt zumindest die groß­formatige namensgebende Zeichnung in fast transparentem Grau so etwas wie die zeitgenössische Variante des historischen Kräftemessens: die Laufbänder eines modern ausgestatteten Fitnessstudios. Menschenleer wirken sie wie verlassene Artefakte eines geheimen Rituals.
An Nachbilder erinnern auch die geätzten, auf Wandauslegern leicht schräg gestellten Glasscheiben. Durch die Spiegelungen im Glas entziehen sich die Motive der einfachen Betrachtung.
Wie ein Souvenir eines Selbsterfahrungstrips erscheint das monochrome Floss im Nichts des Galerieraumes. Der weiße, vom Künstler hermetisch verschlossene, hintere Raum der Galerie greift dieses Thema im kaltweißen Lagerfeuer noch einmal auf.
Mit der Skulptur „Harmony in my head“ wird der Blick jedoch eher nach innen gerichtet. Die Brücke überspannt nicht nur das Tal, sondern auch das in die Landschaft geschriebene Profil des Künstlers. Warum gerade eine Autobahnbrücke für Harmonie im Kopf stehen soll, bleibt offen. Sind es hier eher mentale Abgründe, die es zu überbrücken gilt?
„Diamonds are forever“, die dreiteilige Arbeit im Eingangsbereich, zeigt zentral eine als Urlaubsmitbringsel gebrandmarkte Elefantenschnitzerei. Flankiert von einem Gehirn und einem Bett, sind die Objekte jeweils unter einem Sockel für die im Titel der Arbeit erwähnten Diamanten montiert. Die vermeintlichen Edelsteine weisen bei genauerer Betrachtung allerdings eine Weichholzmaserung auf und wirken mit handwerklichen Ungenauigkeiten eher gebastelt denn für immer. Sie sind aus Einzelteilen konstruiert, ähnlich wie unsere Erinnerungen aus Erlebnissen und Empfindungen zusammengesetzt werden, und mit den tatsächlichen Ereignissen meist nur noch wenig gemein haben.
Michael Göbel lässt Objekte und Bilder wie Gedanken oder Vergangenes nur schemenhaft auftauchen, bevor sie sich im (Ausstellungs-) Raum wieder auflösen. Es werden die Abweichungen unserer persönlichen Wahrnehmungen und die Brüchigkeit der sogenannten objektiven Realität deutlich.

Katalogtext „51°18’49“N 9° 29′ 51“E“ Kasseler Kunstverein, 2010
Bernhard Balkenhol
Ein Riesenrad auf Raumhöhe geschrumpft und teilweise in die Wand und in den Boden versunken relativiert nicht nur das menschliche Maß sondern auch das Mögliche. Michael Göbels Skulptur „Deadlock“ ist dem Riesenrad in Prypjat nachempfunden. In der russischen Arbeiterstadt des Kernkraftwerks Tschernobyl sollte am 1. Mai 1986 ein Vergnügungspark eröffnet werden, wozu es durch die Reaktorkatastrophe am 26. April des Jahres nicht mehr kam. Seit diesem Tag steht das Riesenrad (wie die gesamte Region) in absolutem Stillstand.
Solche Archäologie von Gegenwart und „versunkener Kulturen“ mag romantisch sein oder sich zu Mahnmalen umkehren, die vor dem Unglaublichen warnen. Michael Göbel geht es um mehr. Denn Ausgangspunkt für die Skulptur sind Informationen und Bilder aus den Medien, die er bereits als eine auf Wirkung spekulierende Auswahl versteht. Er reduziert und glättet sie noch einmal, so dass sie wie exemplarische Modelle verstanden werden können. Farbe, Form und Dimension bekommen symbolischen Charakter und verweisen darauf, dass es sich hier um eine Metapher handelt.
Denn es geht ihm nicht darum, in persönlicher Handschrift die Welt zu kommentieren, vielmehr will er Objekte und Situationen aufspüren – und dann neu erschaffen, die auf grundsätzliche Empfindungen oder Begriffe verweisen, Pattern also, die das besondere Einzelne als das Allgemeine behaupten. Seine Objekte und Orte, auch die auf den Bildern, wollen gar nicht (genau) gesehen werden – so „sauber“ sie auch gearbeitet sind – sie wollen vielmehr die Fläche sein, auf der sich die Projektion der originalen Ereignisse und die der Betrachter treffen.
So kann man seine Zeichnungen, mit leichtesten Graustufen gezeichnet, einerseits als der Realität weggenommene Bilder verstehen und gleichzeitig als Nachbilder im Kopf des Betrachters, der sich bereits abgewendet hat.
Michael Göbel lässt sich in seinen Medien nicht festlegen, macht Zeichnungen, malt Bilder, baut Skulpturen und ganze Räume. Die Hotelanlage („Am Strand“, 2005), das Einfamilienhaus („Zuhause“, 2004) und der Stuhlkreis („Kathedralen“, 2001), Hochsitze („o.T. (Hochstände)“, 2007) oder das Zelt auf dem Floß (in der Installation „wilderness“, 2008) und auch schon die unzähligen Personen aus dem Alltag („Menschen“ / „100 Menschen“, 1997/98), immer sind es konkrete Gegenstände und Prototypen und „endgültige Lösungen“ zugleich.

Katalogtext „Michael Göbel“ 2010
Barbara Heinrich MA
„Die Behauptung, daß jeder Mensch einmalig sei und in sich eine unersetzliche Einzigartigkeit trage ist falsch; was mich anging, nahm ich auf jeden Fall keine Spur dieser Einzigartigkeit wahr. Man müht sich zumeist vergeblich ab, individuelle Schicksale und Charaktere zu unterscheiden. Die Vorstellung von der Einmaligkeit der menschlichen Person ist nur eine pathetische Absurdität. Man erinnert sich an sein eigenes Leben, schreibt Schopenhauer irgendwo, kaum besser als an einen Roman, den man irgendwann gelesen hat. Ja, so ist das: Kaum besser.“
Mit diesem Zitat von Michel Houellebecq verweist Michael Göbel auf die zentralen Themen seiner Arbeit: die Beziehungen zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, das Spannungsfeld von Individualität und Konformität, das Verhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit und nicht zuletzt die Frage nach der Entstehung von Identität.
Der Begriff Identität (entlehnt vom lateinischen idem „derselbe“) bedeutet zunächst einmal die Über­ein­stimmung von etwas mit sich selbst. Identitäts­bildung beinhaltet all jene Prozesse, die ein Subjekt entstehen lassen und seine Fähigkeit, sich innerhalb eines sozialen Kontextes auszu­drücken. Folgt man den Thesen des Kulturtheoretikers Stuart Hall, dann ist Identität kein einheitliches Konzept, sondern eher ein Schnittpunkt, das Ergebnis der Spannung zwischen ideologischen und psychologischen Prozessen. Deshalb kann Identität nicht als innere Wahrheit betrachtet werden, sondern ist von Zufällen bedingt und unaufhörlich veränderbar. Trotz dieser flüchtigen Natur muss das Subjekt, um handlungsfähig zu sein, Haltungen oder geistige Verfassungen einnehmen, die wir als Identität bezeichnen. Diese Haltungen haben eine je spezifische Geschichte und sind abhängig von einer andauernden Auseinandersetzung mit der Umwelt und sich selbst.
Welche Faktoren spielen im Prozess der Identitäts­bildung eine Rolle? Welche Haltungen nehmen wir an und wie bringen wir sie zum Ausdruck? Wie entstehen Ansichten und wie individuell sind sie? Bei der Unter­suchung dieser Fragen bilden Foto­grafie, Zeichnung und Skulptur die Arbeits­schwerpunkte von Michael Göbel, wobei die ver­schiedenen Medien sich stets inhaltlich verschränkt präsentieren und formal häufig als Installationen zueinander gestellt werden. Die Skulpturen des Künstlers sind verkleinert nach­ge­stellte Re­konstruktionen realer Gegebenheiten, die auf exakter Fotorecherche basieren. Mit diesen im Format reduzierten Szenarien und Modellen stellt er ironisch soziale Wertigkeiten und Status­symbolik in Frage und hinterfragt Verortungen im Sinne von Ansichten oder Standpunkten. Seine Arbeits­weise ist geprägt von einem Wechsel zwischen Innen- und Außenansicht, sowohl öffentliche Orte als auch private Räume werden auf ihren Bedeutungsgehalt hin unter­sucht.
Das traute Heim, die eigene Wohnung, das Zuhause also, wird herkömmlicher Weise als vom Bewohner individuell geprägter Raum verstanden. Hier richtet man sich nach dem je eigenen Geschmack ein, verwirklicht seine Vorstellungen von Behaglichkeit, Funktionalität und Komfort. Die Skulptur Zuhause (2002), im Maßstab 1:32 gefertigt und im Raum schwebend wie eine Fata Morgana, thematisiert diesen kollektiven Traum vom Eigenheim. Zu sehen ist ein normiertes Fertighaus mit geschlossenen Fassaden und montierter Satellitenschüssel, um­geben von einem Gartenzaun und den obligatorischen Requisiten: Schaukel, Kamingrill, Wäsche­spinne und Carport für den BMW-Kombi. Das Ensemble aus Gips, Holz und Pappe ist mit beige-grünem RAL-Mattlack gleichförmig ein­ge­färbt, ja geradezu uniformiert. In diesem ab­waschbaren cleanen Finish erstarrt die Klein­skulptur zur zynischen Karikatur ihrer Versprechungen.
So auch die Interieurs dieser Eigenheime, die der Künstler in verschiedenen Arbeiten darstellt. Die Serie Bedrooms (2007) besteht aus Marker­zeichnungen, die Innenansichten verschiedener Schlafzimmer zeigen. Jedes der Zimmer ist mit einem Bett (ordentlich gemacht mit Überdecke und Schmuckkissen), Nachttisch und kleinen Kommoden ausgestattet. An den Fenstern hängen Vorhänge, an den Wänden Bilder. Die Einrichtung unterscheidet sich in nur wenigen Details und lässt keinerlei Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des jeweiligen Inhabers zu. Weder liefern diese Zeichnungen irgendeine Art von wirklicher Information noch fördern sie den Wissensprozess. Durch solch eine Inszenierung wird die Möglichkeit von Erkenntnis über die wahre Identität eines anderen Menschen in Frage gestellt, denn es entsteht kein Bild einer konkreten Person. Was wir sehen, ist lediglich eine Repräsentation.
Die Skulpturen Storage I + II (2008) wiederum sind Verkleinerungen von Schrankwänden, die man so oder ähnlich in unzähligen Wohnzimmern finden wird. Aufgestellt zum Zweck der Aufbewahrung sollen sie zugleich möglichst repräsentativ sein. Und auch wenn sie sich im jeweiligen Design unterscheiden – Gelsenkirchener Barock oder Bauhaus-Kopie – sind sie ein Synonym sowohl für den Massengeschmack im Wandel der Zeiten, als auch für die Konformität, mit der wir unsere Wohnungen einrichten.
Kathedralen (2001) ist ein Ensemble von neun verschiedenen Sitzmöbeln en miniature: ein Klapp­stuhl, ein Barhocker, ein Freischwinger à la Marcel Breuer, ein Bürostuhl, verschiedene Varianten von Esszimmer- und Küchenstühlen, ein Schaukel­stuhl und der stapelbare Gartenstuhl Modell Memphis. Auf je einem Sockel platziert und mit Spots beleuchtet wirken sie wie Ikonen der modernen Design­ge­schichte. Ihre einheitlich weiße Färbung jedoch nimmt ihnen den individuellen Charakter. Die Aufstellung im Kreis gleicht einer Endlos­schleife: die immer und immer wieder­kehrende Reproduktion des immer Gleichen.
Eine Art Zwischenraum zwischen privatem und öffentlichem Raum bilden Hotels. Unpersönlich und auf Funktionalität ausgerichtet, uniform und wieder erkennbar in ihrem jeweiligen Hotelkettenoutfit, versprechen sie dem Gast doch sich wie zuhause fühlen zu können. Anders als bei seinen späteren Skulpturen bringt Michael Göbel in Sauerland Pension (2000) ein reales Objekt ins Spiel. Die Arbeit besteht aus einem Ensemble von zwei Kopfkissen mit akkuratem Knick, die auf einem hölzernen Bord ausgestellt sind. Da ihnen der Überzug fehlt, kann man noch die Gebrauchsspuren der vormaligen Benutzer erkennen. Was sonst nur in der Abge­schiedenheit eines Hotelzimmers dem jeweiligen Mieter (und dem Zimmermädchen) zugänglich ist, wird hier öffentlich gemacht, liefert aber wiederum keinerlei Erkenntnisgewinn. Nur die Wissenschaft der Forensik könnte anhand der Spuren zuverlässige Aussagen über Individuelles liefern. Die Anonymität bleibt gewahrt.
Dass nicht nur das Privatleben, sondern selbst unser Freizeitverhalten normiert ist zeigt die Installation Endlich allein (2008). Auf einer Bank türmen sich drei Sockel und bilden eine Art abstrahierte Berglandschaft, auf deren Gipfel eine kleine menschliche Figur positioniert ist, die einsam in die Ferne schaut. Daneben finden sich, auf edler Kirschholzplatte, die Reste eines heruntergebrannten Lager­feuers. Kontrastiert wird diese Anordnung durch zwei Markerzeichnungen von anonymen Hoch­haus­siedlungen. Die Sehnsucht nach dem Aus­bruch aus dem Alltagseinerlei paart sich hier mit klischeehaften romantischen Vorstellungen vom Leben in der Natur, von Freiheit und Abenteuer, von einzigartigen Erlebnissen. Sehnsüchtige Pro­jektionen einer saturierten Gesellschaft, die sich ihrer Konformität durchaus bewusst ist und deren Träume nicht zuletzt von einer gigantischen Werbemaschinerie generiert und bedient werden. Wie absurd diese Träume sein können thematisiert die Arbeit Am Strand (2005), die das Phänomen des Massentourismus aufgreift. Auf einer Platte von zwei Metern Durchmesser ist eine komplette türkisblaue Ferienanlage montiert. Hinter einem klotzigen Hotelbau mit Balkonen rundum findet sich die Poollandschaft mit Palmen, Liegestühlen, Sonnen­­schirmen, Bar und Zugang zum Strand. Auf anschauliche Weise wird hier die Paradoxie des Verhältnisses von Individualität und Konformität auf den Punkt gebracht: Die schönste Zeit des Jahres, den Urlaub, der doch etwas Besonderes und Außergewöhnliches sein soll, verbringt man als Pauschaltourist.
Mit dem Thema Freizeit hat sich Michael Göbel auch in anderen Arbeiten beschäftigt, so einer Serie von Zeichnungen mit dem Titel Luna Park. Mit hellem grauem Grafikmarker sind verschiedene Stände und Fahrgeschäfte in lichter und zarter Schraffur wieder­gegeben, die keinerlei Handschrift erkennen lässt. Nur aus der Fernsicht gibt sich das Dargestellte in seiner Gesamtheit zu erkennen. Kommt man näher, lösen sich die Formen auf und werden transparent, fast durchsichtig. Die Anonymität der Motive wird durch die völlige Abwesenheit von Menschen noch verstärkt. Ohne Besucher bleiben diese Orte reine Kulisse, offenbaren ihren Charakter als Projektions­flächen. Auch das Modell für die Skulptur Deadlock (Prypjat) stammt aus einem solchen Park. Es handelt sich dabei um ein Riesen­rad, das in einem Ver­gnügungs­park der russischen Stadt Prypjat steht. Die Eröffnung des Parks war für den 1. Mai 1986 geplant, fand aber aufgrund der Reaktorkatastrophe im nahe gelegenen Kernkraft­werk Tschernobyl im April nicht mehr statt. Erstarrt und wie einbetoniert in Wand und Boden des Ausstellungsraums thematisiert das Fragment den Supergau, den Einbruch der Realität, der wir in solchen Settings ja gerade zu entkommen ver­suchen, und gleicht einer Austreibung aus dem Paradies.
Die permanente Auseinandersetzung mit dieser uns umgebenden Realität, das Beobachten der anderen, das bei der eigenen Identitätsfindung eine wesentliche Rolle spielt, wird auf eindrückliche Weise mit der Arbeit Hochstände (2007) untersucht. Jeder kennt diese eigenartigen Gebilde der Land­schafts­möblierung, die ihren Nutzern die Möglichkeit bieten, unbeobachtet beobachten zu können. Im Englischen nennt man sie „Raised Hides“, also erhöhte Verstecke. Der Hochstand ist ein Raum, von dem aus man den Überblick über einen bestimmten geografischen Bereich hat, der zugleich aber vor Einblicken von außen schützt und so eine Art Anonymität im öffentlichen Raum gewährt. Im Maßstab 1:6 verkleinert, gleichförmig rosa ein­gefärbt und auf gekachelten Sockeln positioniert, werden nun diese Kleinskulpturen zum Klischee ihrer ursprünglichen Aufgabe, denn hier wird die Blickrichtung verkehrt. Neugier, voyeuristisches Vergnügen und die Idee der Überwachung werden in dieser Arbeit dokumentiert und ad absurdum geführt.
Wie viel Öffentlichkeit verträgt das Private und vice versa? Welche Einblicke lassen wir zu und welche werden uns gewährt? Gibt es so etwas wie Einzig­artigkeit oder sind unser Verhalten und Empfinden gänzlich geprägt von den Normen und Traditionen der Gesellschaft? Michael Göbel geht es bei seinen Arbeiten nicht um den Kontrast. Sein Thema sei das Individuum, das sich von der Gesellschaft abheben möchte, verdeutlicht der Künstler, und macht zugleich klar, dass dies immer nur innerhalb der Gesellschaft und ihrer Codes funktionieren kann. „Ich sehe bei all meinen Arbeiten immer den Menschen, aber er taucht dann tatsächlich eher selten auf“, beschreibt der Künstler seine Methode. Vielmehr seien es die Spuren, die wohl jeder irgendwo hinterlasse, die schlussendlich in seinen Installationen zu entdecken seien.
Michael Göbels Arbeiten scheinen uns vor Augen zu führen, dass unsere individuell-subjektiv begriffenen Vorstellungen im Grunde erschreckend gleichförmig sind. Seine humorvolle und ironische Herangehens­weise offenbart das Scheitern unseres Wunsches nach Einzigartigkeit. Aber eine leise Hoffnung bleibt.

Katalogtext „Inseln“ Kunsthalle Willingshausen, 2010
Bernhard Balkenhol
Dörfer sind wie kleine Seen, die von Straßen und Wegen gespeist, sich in der Landschaft gebildet haben. Von den Menschen aus gesehen, die darin wohnen, könnte man auch von Inseln sprechen. Deren Bewohner haben sich hier angesiedelt und auf dem eingenommenen Land ein Gemeinwesen gegründet. Es fasst sie zusammen und schützt sie vor dem Draußen. Auf diesen Inseln haben sich die jetzt Ansässigen wiederum eigene kleine Inseln gebaut, Orte, an und in die sie sich zurückziehen können, wo sie sicher sind vor den Blicken und Zugriffen der Anderen. Darin wiederum, abgetrennt oder über Treppen erreichbar, findet man noch kleinere Orte, die privaten Zimmer, wo jeder ganz für sich sein kann. Geht man diesen Weg weiter, gelangt man zu den Möbeln, den Schubladen und Schachteln, schließlich in die Kleidung bis in den Kopf, den wachen wie den schlafenden.
„Niemand ist eine Insel“, so sagt man sprichwörtlich. Der Dichter und Theologe John Donne hatte Anfang des siebzehnten Jahrhunderts diesen Satz formuliert und weiter ausgeführt: „Jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlands. Wenn ein Erdklumpen ins Meer gespült wird, wird Europa weniger, genauso wenn es eine Landzunge ist, oder ein Landgut deines Freundes oder dein eigenes.“ Er wollte darauf aufmerksam machen, wie wertvoll jeder Einzelne für das Gemeingut ist und wie sehr ihn das verpflichtet.
Gleichwohl braucht es offenbar die Grenzen. So jedenfalls sieht Michael Göbel das, der im Rahmen seines Arbeitsstipendiums drei Monate in dem kleinen Schwälmer Dorf Willingshausen verbracht hat. Seine Ausstellung in der dortigen Kunsthalle nannte er vieldeutig „Inseln“.
Michael Göbel zeigt dort Zäune, Hecken und Tore, die die einzelnen Grundstücke und Höfe abschotten. Er zeigt Treppen, deren Von-Wo und Wohin schwer zu identifizieren ist. Und er zeigt beleuchtete Fenster in der Nacht, die die neugierigen Blicke anziehen wie die Mücken das Licht. Er selbst zeigt sich auf der Einladung und dem Plakat als Fremder auf dem Weg ins Dorf, mit seinem gelben „Friesen-Nerz“ wie in eine alte Schwarz-Weiß-Postkarte hinein montiert.
Grundlage all dieser Bilder sind streng dokumentarisch aufgenommene Fotografien. Sie nehmen das Gesehene emotionslos und präzise in Besitz. Trotzdem verorten sie den Fotografen durch die spezifisch bildnerische Gestaltung von Ausschnitt, Blickrichtung und perspektivischer Verzeichnung und zeigen sein Motiv, „was sehen“ zu wollen. Die Bildmotive allerdings verschließen dem Betrachter den Blick, zeigen ihm, dass er draußen steht und eigentlich nichts sehen kann – und soll.
Michael Göbel hat die Fotografien von den verschiedensten Abgrenzungen im Dorf als Vorlage zu großformatige Zeichnungen verarbeitet. Sie geben das Foto allerdings nicht in seiner Farbigkeit wieder sondern in einem kaum sichtbaren Grau. Mit dem Filzstift übersetzt er es graphisch und ohne jegliche Handschrift in eine Parallelschraffur, als würden sich das Motiv, die Mauern und der Bewuchs gegen ihre Sichtbarkeit und tatsächliche Erscheinung wehren. Die Motive gehen in einem zeichnerischen Effekt auf und verwandeln so das Bild in ein Bild vom Bild.
Auch die Fotografien von den Treppenhäusern hat Michael Göbel übersetzt, indem er sie auf bloßes Helldunkel reduziert und auf Glasplatten geätzt hat. Man muss einen bestimmten Winkel finden, um sie überhaupt deutlich wahrnehmen zu können. Geht man ganz nahe heran, löst sich das Bild in kaum noch signifikante matte und glänzende Flächen auf. Wieder aus dem Abstand gesehen, erscheint das Bild wie eine farblose Spiegelung auf einem Fenster, das den interessierten Blick begrenzt.
Und schließlich die Lichtpunkte in der dunklen Nacht, die hell erleuchteten Fenster, auch sie gewähren keinen Einblick. Niemand ist darin zu sehen, beleuchtet sind nur die Grenzen zum Privaten, die Vorhänge und der Fensterschmuck als indirekte Charakterisierung und minimaler Verweis auf die Bewohner.
So geben diese Fenster, ebenso wie die Treppenhäuser und Absperrungen ein Bild ab, das gerade in der spezifischen künstlerischen Verarbeitung mehr als ihr Motiv ist. Das Motiv wird zur Metapher, wodurch sich die distanzierte Sachlichkeit wieder personalisiert, und fragt nach den Menschen und ihren Haltungen wie nach dem Standpunkt und den Projektionen des Betrachters – und das, trotz oder gerade wegen der Widerstände, die dem Betrachtung in den Weg gelegt werden.
Wie gegenständlich und real ein solches Bild auf den Begriff gebracht werden kann, zeigte die zentrale Arbeit in der Ausstellung: der aufgebockte Tanzboden, der sich mit seinen Lampions über dem Trubel des Dorffestes erhebt – auch eine Insel, zum gemeinsamen Tanzen und zu fröhlich ausgelasser oder zärtlicher Zweisamkeit. Allerdings ist es schon Nacht und der Tanzboden verlassen in dunklem Blau. In seiner Größe um die Hälfte geschrumpft und teilweise verschwunden in der Wand, erscheint die Szene wie ein Nachbild, eine Erinnerung an etwas, das – so ähnlich oder prinzipiell? – schon wieder Vergangenheit ist.

Einführung in die Ausstellung „room with a view“ Kulturnetz Kassel, 2008
Barbara Heinrich MA
Michael Göbel (Jahrgang 1973) hat in Kassel Freie Kunst bei Professor Lüthi und Visuelle Kommunikation bei den Professoren Ott und Stein studiert.
Seine Arbeitsschwerpunkte sind Fotografie, Malerei, Zeichnung und Skulptur, die inhaltlich stets vernetzt sind und auch formal häufig in Form von Installationen zueinander gestellt werden.
Der Titel der Ausstellung „Room with a View“, also etwa „Zimmer mit Aussicht“, deutet das Thema schon an. Das englische Wort „view“ hat vielerlei Bedeutungen: Anblick, Ansicht, Aussicht, aber auch Absicht, Anschauung, Auffassung oder Betrachtung, Blick, Vorstellung.
Gemeint ist also nicht nur die Auseinandersetzung mit realen Räumen und ihren formalen Aspekten, also der Blick auf etwas, sondern es geht in Michael Göbels Arbeiten immer auch um Einblicke und Verortungen im Sinne von Ansichten oder Standpunkten.
Michael Göbels Skulpturen, wie die hier ausgestellten Hochstände, sind verkleinert nachgestellte, auf exakter Fotorecherche basierende Rekonstruktionen realer Gegebenheiten. Jeder kennt diese eigenartigen Gebilde der Waldmöblierung, die ihren Nutzern die Möglichkeit bieten unbeobachtet beobachten zu können. Im englischen nennt man sie „Raised Hides“, also erhöhte Verstecke. Der Hochstand ist ein Raum, von dem aus man den Überblick über einen bestimmten geografischen Bereich hat und der seine jeweiligen Nutzer zugleich selbst schützt – eine Art Anonymität in einem öffentlichen Raum.
Im Maßstab 1:6 verkleinert und gleichförmig rosa eingefärbt erstarren nun diese Kleinskulpturen zur ironischen Karikatur ihrer ursprünglichen Versprechungen, denn nun kann jeder Einblick nehmen – der Betrachter hat den Überblick über das Geschehen. Und um genau diese Umkehrung des Blickwinkels, um das Wechselspiel von Verstecken und Zeigen, von Intimität und Öffentlichkeit geht es in Michael Göbels Arbeiten.
So auch in Sauerland Pension, einem Ensemble aus zwei Kopfkissen, die auf einem hölzernen Bord ausgestellt sind. Was sonst nur in der Abgeschiedenheit eines Hotelzimmers dem jeweiligen Mieter (und dem Zimmermädchen) zugänglich ist, wird hier öffentlich gemacht, einschließlich der Gebrauchsspuren.
Dieser Wechsel von Innen- und Außenansicht setzt sich auch in den ausgestellten Zeichnungen fort, die zum einen öffentliche Räume, wie etwa die Poollandschaft einer Hotelanlage, aber auch Innenräume, also intime Interieurs zum Thema haben (in diesem Fall Schlafzimmer). Mit hellgrauem Grafikmarker sind die Sujets in zarter Schraffur aufgetragen. Nur aus der Fernsicht gibt sich das Dargestellte in seiner Gesamtheit zu erkennen. Kommt man näher, lösen sich die Formen in der Schraffur auf und werden transparent, fast durchsichtig.
Wie privat ist der öffentliche Raum? Wie viel Öffentlichkeit verträgt das Private? Welche Einblicke lassen wir zu und welche werden uns gewährt? Wie entstehen Ansichten und wie individuell sind sie? Um genau diese Fragen kreisen die Arbeiten von Michael Göbel.

Einführung in die Ausstellung „Miniaturwelten“ Kunsttempel, Kassel, 2003
Doris Krininger MA (Auszug)
(…) 100 minutiös auf Papierschnipsel schwarz weiß in Öl gemalte Ganzkörperbildnisse zwischen 3 cm und maximal 7 cm Höhe, sowie eine weitere bunt kompakte, auf Holztäfelchen gesetzte Bildnisreihe stellt Michael Göbel dem groß aufgeladenem Image der Porträtmalerei gegenüber. Zeitungsprints, später eigene Fotoaufnahmen liegen jeweils als Ausgangsmaterial seiner Porträtgalerie zugrunde. Die Papierblättchen, schlicht mit Stecknadeln angepinnt finden passgenau in einer Schachtel ihre Aufbewahrung, zu den Farbarbeiten gehört eine Kassette mit dem Fassungsvermögen von je 6 Täfelchen und zur Erleichterung der Hängung hinzugefügt, eine Bohrschablone. Als work in progress konzipiert, löste die noch unbeendete Buntserie, 1998 die schwarz-weiß Reihe ab. Die Häufung der anonymen Porträts ist als visuelle Statistik, in Kleidung Haltung und Auftreten als zeitbezogenes Soziogramm zu lesen. Ein minimaler Kunstgriff, die radikalen Verringerung des gewohnten Volumens irritiert und verlangt genaues Hinsehen wie die Typologien der Winzlinge den bevölkerungsdurchschnittlichen Ist-Zustand malerisch protokollieren.
Unterm Sturz gesichert ruhen 6 „Andenken an Zuhause“ betitelte Modelle. Sie gehören als Indikatoren wohlständischer Existenz zu dem schwebenden Reihenhaus, „Zuhause“, welches in leichter Korrektur an der LandbergGartenBahn-Norm ausgerichtet ist. Die 2002 entstandene Werkgruppe basiert ebenfalls auf Fotorecherchen überall zu findenden, von Ortsbezogenheit und Lokalkolorit gesäuberten Privatbesitzes. Aus Gips, Holz und Pappe bestehend und identisch mit einem Ton aus der RAL-Mattlack-Palette eingefärbt, zeigt sich hermetisch abgedichtet, in Bauspareroptik standardisiert das Eigenheim und seine obligatorischen Requisiten. Schaukel, Kamingrill, Wäschespinne, Sichtschutz, Schuppen, Zaun und BMW-Combi referieren familiär ideale Arbeit und Freizeitkonditionen. Im abwaschbar, cleanen Finish erstarren die Kleinskulpturen zur zynischen Karikatur ihrer vermeintlichen Versprechungen. (…)

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