2021
Metall, pulverbeschichtet
740 × 575 × 432 cm
Installation September – Oktober 2021 in Kassel (Fotos: © Nils Klinger)
Februar – April 2022 in Solothurn, Schweiz
(…) Bewegung ist also die Voraussetzung für Stabilität. Hört der Kreislauf auf, drohen Kollaps, Umsturz und Havarie. Damit ist ein allgemeines Weltgesetz formuliert – eines, das im Kleinsten wie im Größten wirksam ist. Irgendwo dazwischen liegt Michael Göbels skulpturales Objekt, dessen Ankunft wir heute feiern.
Wer kurz zuvor diesen Kirchenraum betrat, empfand möglicherweise Irritation: Komme ich denn nicht hierher, um eine Auszeit vom Alltagsgetriebe zu nehmen? Ich will hier Ruhe schöpfen, Stille spüren und keinerlei Ablenkung ausgesetzt sein. Stattdessen taucht hier mitten im Raum dies sperrige Gebilde auf, das in seiner Schieflage manchen wie ein kollabiertes Karussell vorkommen mag.
Ist „Roundabout“ vielleicht vom Himmel gefallen und versinkt defekt im Boden? Nun, auch die umgekehrte Perspektive ist möglich: Ist diese technische Maschinerie vielleicht im Begriff, aufzutauchen, dem Untergrund zu entsteigen, aus dem sie in – wie der Künstler dazu sagt -alltagsarchäologischer Arbeit herauspräpariert werden muss, um sich allmählich zu voller Größe, zu Form und Funktion erheben zu können? Jedenfalls behauptet dieses UFO unübersehbar seine Präsenz im Kirchenschiff – und fordert uns alle zur Stellungnahme heraus.
Was also haben wir hier für die nächsten Wochen vor uns?
Das rubinrote Konstrukt verweist auf Rotation, auf Wiederholung, auf: Ritual. Und damit auf Vorgänge im gesellschaftlichen Rahmen, der geprägt ist von wiederkehrenden Handlungsmustern. Wie das mechanische Gerät durch die Wiederkehr des Gleichen Stabilität gewinnt, so gibt sie uns allen Sicherheit, Standfestigkeit und Ortsbezug in einer sich immer rascher wandelnden Welt.
Und damit liegt „Roundabout“ hier, wo es liegt, genau richtig: in einem Ambiente, das gleichfalls charakterisiert ist durch zirkuläre Vorgänge. Denn auch der soziale Handlungsraum Kirche ist auf vielfältige Weise geprägt von ritualisiertem Handeln, das die einzelnen einbindet in ein System sich wiederholender Abläufe. Die Liturgie stiftet Geborgenheit im Regelwerk zirkulärer Vollzüge.
Darüber hinaus können wir Michael Göbels Skulptur auch in kunstgeschichtlichem Zusammenhang betrachten. Denn im Gegensatz zu seiner Sonderstellung hier in St. Martin ist das Karussell in der bildenden Kunst gelegentlich – und in sehr unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen – anzutreffen. Mit seinem Konzept leistet der Künstler daher seinen Beitrag zu jenen Karussell-Adaptionen der neueren Kunst- und Kulturgeschichte, die zumeist mit gesellschaftskritischen und politischen Implikationen argumentieren.
Zu nennen ist da zum Beispiel Hans Haacke, der für „Skulptur.Projekte Münster 1997“ das dortige Kriegerehrenmal mit einem Kinderkarussell konfrontierte, bei dem das „Deutschlandlied“ den Soundtrack bildete.
Und Andreas Sieckmann machte (manchen von Ihnen vielleicht noch erinnerlich) während der documenta 12 das Denkmal Friedrich II. mit einer Karussell-Umbauung zum Dreh- und Angelpunkt seiner Kritik an Ausländerrecht und Abschiebeverfahren.
Als jüngstes Beispiel möchte ich das Waisen-Karussell in der Frankfurter Gallus-Anlage erwähnen: Die Künstlerin Yael Bartana – ebenfalls auf der documenta 12 präsent – installierte es Anfang September in Erinnerung an die Kindertransporte nach England 1938/39. Damals – wie heute z.B. in Kabul – hegten Kinder und Eltern die Hoffnung auf baldiges Wiedersehen.
Es sind dies Beispiele künstlerischen Rotierens, die den Blick auf das jeweilige Zentrum der Bewegung konzentrieren: auf das, worum sich alles dreht. Das Karussell dient als Instrument der Aufmerksamkeitslenkung auf das Wesentliche.
Alle reden vom Karussell – ich bislang auch. Doch bei Licht besehen, ist Michael Göbels Karussell keines – auch kein Modell eines solchen. Es ist, was wir sehen: ein dreidimensionales Objekt, das zugebenerweise gewisse Form-Merkmale mit dem wohlbekannten Vergnügungsgerät gemein hat.
„Dies ist keine Pfeife“, hatte Rene Magritte unter seine Abbildung einer Pfeife geschrieben. Und so könnte auch unser Künstler sagen und schreiben: „Dies ist kein Karussell!“
Das mag spitzfindig klingen – und das ist es auch. Aber es ist entscheidend für die Beurteilung dessen, was wir da vor uns haben: nichts anderes nämlich als ein Kunstwerk. Die Möglichkeit zur Unterscheidung zwischen einem realen Gegenstand und seiner künstlerischen Abbildung ist für den Umgang mit dieser essenziell. Jahrhundertelang hatte ein blutiger Bilderstreit genau um diese Frage nach Identität oder Nichtidentität von Abbild und Abgebildetem gewogt – und insbesondere auf dem Feld der Religion, auf dem wir uns hier befinden, ist dieser Unterschied nach wie vor von fundamentaler Bedeutung.
Bislang gab es zwei plastische Großstrukturen, die den Raumeindruck von St. Martin wesentlich mitbestimmten:
das Grabdenkmal für Landgraf Philipp hier an der Nordseite mit seinem historischen Formenaufwand – und die neue Orgel mit ihrer horizontalen und vertikalen Ausrichtung. Nun ist ein drittes Element hinzugekommen: eines, das auf den ersten Blick quer zu den traditionellen Ausstattungstücken zu liegen scheint. Bei näherer Betrachtung indes bindet sich „Roundabout“ durchaus harmonisch in deren Eigenschaften ein: Denn zum Karussell (wenn es denn eines ist) gehört unvermeidlich das Element Musik, vorzugsweise die einer Orgel. Und: die Figur des Landgrafen in seinem Epitaph ist momentan so defekt, so heilungs- und heilsbedürftig, wie es auch Michael Göbels Jahrmarkts-Maschine zu sein scheint.
Wenn Sie sich einmal umschauen, dann sehen Sie: Der Kirchenraum von St. Martin weist etliche lineare Strukturen auf: Säulen, Gewölberippen, Fensterbänder und deren Windleisten. Eingebettet in dieses System aus visuellen Bezügen löst sich „Roundabout“ – trotz seiner massiven Materialität – aus manchen Blickwinkeln nahezu in die Raum- und Luftsituation hinein auf. Das Kunstwerk, das keinen eindeutigen Betrachtungsstandpunkt aufweist, sondern stattdessen eine Vielzahl von Perspektiven eröffnet, verlangt also, dass sich das Publikum selbst in Bewegung setzt und um das Werk zirkuliert. Denn dies ist eine Lehre der Rotation: Nur im beständigen Wechsel der Ansichten kann Kunstwahrnehmung heute funktionieren: nicht durch das Bestehen auf dem eigenen Standpunkt, sondern in der Bereitschaft zum Erleben des immer wieder Neuen und Anderen.
Sofern denn nun dieses Werk als Karussell wahrgenommen wird: Die Kirche hat noch Luft nach oben. „Roundabout“ könnte hier vollständig ins Lot gebracht werden; gleich könnte es die unterbrochene Rotation wiederaufnehmen. Und wenn ich noch die Chorkirche als möglichen Standort hinzunehme: An beiden Orten könnte „Roundabout“ seine Dynamik entwickeln; die Musik ist jedenfalls schon da: Schwalbennestorgel oder die beiden Rieger-Orgeln. So kann es also losgehen! Schnallen Sie sich an! Verlassen Sie den Boden der Sonntagsrealität – und lassen Sie sich eindrehen in die Dimension der bildenden Kunst!
Auszug aus der Einführung in die Ausstellung „Roundabout“, St. Martin, 2021
Angela Makowski